Gegenüber Katharinas Wohnung hat ein seltsames, neues Geschäft eröffnet. „Personality“ steht auf dem Schaufenster und im Laden gibt es nur Apothekerschränke voller beschrifteter Schubladen. Heute schaut sie sich das einmal an.
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So bin ich erzogen worden und bisher hat mir das in meinem Leben auch gute Dienste geleistet. Es besteht keinerlei Grund, anzunehmen, dass die Realität anders sein könnte, als das, was wir messen können.
Zu keinem Zeitpunkt in meiner Entwicklung habe ich etwas erlebt, dass es rechtfertigen würde, religiös oder spirituell werden zu müssen. Ich hatte keinerlei psychologischen Probleme in meiner Kindheit. Ich war nur einsam.
Aber das ist nicht ungewöhnlich, wenn man ein Einzelkind ist und sich ausschließlich für Naturwissenschaften interessiert. So wird man kein Mädchenschwarm und kein Klassensprecher. So wird man Physiker!
Gut. Damit wäre das geklärt.
Dann ist da noch Schnuddelpuddelwuddel. Das passt nicht so richtig in diesen Lebenslauf. Das kann man natürlich nicht messen! Aber gerade als Einzelkind ist es durchaus normal, dass man sein normales soziales Bedürfnis nach gleichaltriger Gesellschaft in etwas projiziert … also, ich meine, dass der beste Freund nur ein imaginärer ist, oder? So wie eben Schnuddelpuddelwuddel! Völlig normal ist das! Völlig!
Das ist kein Grund zu lachen!
Und überhaupt: Schnuddelpuddelwuddel und seine Erscheinung sind Zeichen einer ausgeprägten kindlichen Kreativität, auf die andere wahrscheinlich stolz wären!
Ich habe mich durchaus mit dem Erkenntnisstand der Psychologie beschäftigt, was Fantasiefreunde betrifft. Darum bin ich auch ein bisschen stolz, dass Schnuddelpuddelwuddel so anders ist.
Viele Drei- oder Vierjährige – man geht von 30% aller Kinder aus – imaginieren einfach ein anderes Kind – den Freund oder die Freundin, die sie einfach nicht haben. Jemand, der sie begleitet und den nur sie sehen oder hören können. Das ist völlig normal!
Schnuddelpuddelwuddel ist aber kein Mensch. Es ist höchstens 85 Zentimeter groß, rund wie ein Wasserball, blau und es hat kleine Flügelchen. Meine Kindheit lang hat es mich begleitet, ist immer um mich herumgeflogen.
Aufgetaucht ist es eines Morgens im Kindergarten. Mein Vater war gerade hektisch damit beschäftigt, mir die blöden Hausschuhe an den Fuß zu montieren, da saß es neben mir.
„Ist der immer so hektisch?“, hat es gefragt.
„Ja, immer. Er ist immer zu spät dran.“, antwortete ich.
„Wie bitte?“, fragte mein Vater.
„Aha. Verstehe. Ich bin Schnuddelpuddelwuddel!“, sagte Schnuddelpuddelwuddel.
„Ich bin Jens!“, sagte ich.
„Ich weiß – kannst Du mir nicht ein bisschen helfen?“, sagte mein Vater.
Von da an hat es mich begleitet. Es entwickelte bald seine komische Angewohnheit, mehrere von meinen T-Shirts übereinander zu tragen, so wie ich das auch gerne machen würde. Das sah seltsam aus; wegen der Flügelchen rollte es die Shirts hinten zu einer Wurst. Hosen oder aber Schuhe verabscheute es, genau wie ich.
Keiner hatte bessere Ideen, was ich im Kindergarten mit den Duplosteinen anfangen könnte! Ich verbrachte meine ganze Zeit mit Duplo. Darum war der Kindergarten auch so langweilig – zuhause hatte ich schon längst Lego, welches architektonisch viel mehr Möglichkeiten bot.
So wurde Schnuddelpuddelwuddel zu einem Teil meines Alltags. Es begleitete mich durch die Grundschulzeit, auch wenn es sich weigerte das Schulgebäude zu betreten! Was ich gut verstehen kann – ich hasste es auch!
Es hat sich überhaupt nicht für Mathe interessiert und auch das Schreiben oder Lesen konnte ich ihm nicht beibringen. Aber, wenn wir wieder einmal eine Erlebnisgeschichte schreiben musste, half es mir! In meinem Leben passierten, ehrlich gesagt, nicht viele Dinge, die berichtenswert gewesen wären.
Aber, wie es so ist mit Fantasiefreunden – sie verschwinden irgendwann wieder aus dem Leben derer, die sie in die Existenz gewünscht haben.
Als ich auf’s Gymnasium kam, sah ich es immer seltener. Was vielleicht auch daran liegt, dass es das Autofahren nicht mochte und das Fahren mit dem Schulbus schon gar nicht!
Doch ab und an besuchte es mich noch immer und ich freute mich jedes Mal, wieder endlich jemanden zu haben, mit dem ich stundenlang plaudern konnte!
Ich habe die Theorie, dass die Fantasiefreunde irgendwie mit dem Sexualtrieb verknüpft sind. Denn, als ich begann, mich für Mädchen zu interessieren, wurden seine Besuche immer seltener.
Und jedes Mal, wenn ich dann doch von meinen sehr zarten Annäherungsversuchen berichtete, erfüllten die Details Schnuddelpuddelwuddel nur mit Abscheu!
Genau, wie damals, als ich ein Kind war und die Kuss-Szenen in Filmen nicht nur völlig unverständlich fand, sondern im Ansatz auch richtig eklig!
Na ja … bis … Bis ich dann entdeckte, wie man auf der Fernbedienung einfach eine Szene weiterspringen konnte.
Nach dem Gymnasium kam die Universität. Ich kann mich während der Studienzeit nur an einen einzigen Besuch erinnern. Bezeichnenderweise an einem Tag, als alle Mitbewohner auf irgendeiner dummen Party waren und ich alleine vor meinem Rechner saß.
Spätestens seitdem wir uns kennengelernt haben und vor drei Jahren und sechs Wochen ein Pärchen wurden, war Schnuddelpuddelwuddel völlig aus meinem Leben verschwunden. Wie ich schon sagte, das Ganze hängt wahrscheinlich mit dem Sexualtrieb zusammen – obwohl ich dazu keinerlei Studie finden konnte, lässt mein Einzelfall nur diesen Schluss zu, oder?
Gut. Das war auf jeden Fall der Stand der Dinge bis vor 95 Minuten.
Als ich am Rechner sitze und arbeite, höre ich ein seltsames Geräusch hinter mir. Und als ich mich umdrehe, sehe ich Schnuddelpuddelwuddel, wie es meinen Schrank durchsucht auf der Suche nach einem – oder am besten drei – passenden T-Shirts. Habe ich aber natürlich nicht mehr.
Dann hat es sich auf die Schlafcouch geschmissen und seitdem plaudern wir. Sind schon drei Stunden! Kannst Du dir das vorstellen?
Ich kann Dir beim besten Willen auch nicht erklären., warum es wieder da ist. Ich denke, es gibt keine logische Erklärung dafür.
Besonders ratlos macht mich die Tatsache, dass Du Schnuddelpuddelwuddel auch sehen und hören kannst. Das wirft meine Theorie über Fantasiefreunde, zugegebenermaßen, völlig über den Haufen!
FA: Na endlich ist er fertig mit seinem Monolog! So ist er, mein Jens! Wenn man ihm eine Frage stellt – zum Beispiel, warum er noch nicht angezogen ist und in Unterhosen vor dem Rechner sitzt – dann kann man nie wissen, ob er nur ein „Hm“ grunzt oder aber eine halbe Stunde darüber referiert, wie sehr unser Verständnis von Zeit dadurch verzerrt wird, dass wir Raumzeit nicht wahrnehmen können!
Auf jeden Fall gibt es nicht den geringsten Zweifel, dass ich das Wesen auf der Couch sehe. Ich hätte seine Farbe nicht mit „Blau“ beschrieben, sondern eher mit „Türkis“, aber kugelrund ist auf jeden Fall eine treffende Beobachtung!
Es fläzte schon auf der Couch, als ich das Zimmer betrat und rief mir munter ein „Hallo“ zu. Na ja eigentlich rief es: „Hallöchen Popöchen, meine Hübsche!“
„Jens, Du hast mir Dein Haustier noch gar nicht vorgestellt!“, sagte ich.
„Freund“, sagte das Schnuddelpuddelwuddel.
„Freund“, korrigierte ich mich.
„Schnuddelpuddelwuddel“, sagte Jens.
„Und Du?“, fragte das Schnuddelpuddelwuddel.
„Freundin“, sagte Jens.
„DIE Freundin“, sagte ich.
„Aaah!“, sagte Schnuddelpuddelwuddel. „Knutscht ihr auch?“
Freund hin oder Freund her, ich war mir auf jeden Fall sicher, dass solche Intimitäten einen türkisfarbenen Wasserball mit Flügelchen, den ich zum ersten Mal in meinem Leben sah, überhaupt nichts angingen!
„Das geht Dich überhaupt nichts an!“, sagte ich.
„Also knutscht ihr doch! Heimlich wahrscheinlich!“, sagte Schnuddelpuddelwuddel.
„Schnuddelpuddelwuddel ist mein imaginärer Freund“, sagte Jens.
„Imaginär? So ein Quatsch! Ich sehe und höre ihn doch vor mir!“, sagte ich.
Und dann schauten sich Jens und der Wasserball wissend an und stöhnten beide. Also sagte ich: „Das musst Du mir erklären!“ Und das hat dann diesen Monolog ausgelöst.
Zuerst dachte ich, es sei um Jens geistige Gesundheit geschehen, denn die physische Existenz von dem Flügelball war ja nicht zu leugnen.
Aber mehr beschäftigt mich im Moment meine Eifersucht, wenn ich ganz ehrlich sein soll. Kommt da so ein Ball aus der Vergangenheit und mit dem kann der feine Herr Physiker auf einmal stundenlang plaudern!
„Warum könnt ihr euch sehen und hören?“, fragt Jens.
„Warum sollte ich sie nicht sehen können?“, fragt Schnuddelpuddelwuddel.
„Warum solle ich es nicht sehen können?“, frage ich.
„Weil das unmöglich ist! Keiner kann es sehen oder hören! Nur ich! Das ist doch der Witz! Das habe ich doch nur erfunden, weil ich als Einzelkind so einsam war! Schnuddelpuddelwuddel existiert nur in meiner Fantasie! “, erklärt Jens voller Leidenschaft.
Ich kucke zu dem Wasserball. Und Schnuddelpuddelwuddel weiß, was ich sagen werde.
„Eben! Genau wie ich, Jens“, antworte ich. „Genau wie ich!“